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Was Shila ihrem Geliebten erzählt:

Was Shila ihrem Geliebten Svadi erzählt:

Der Tee zeigte seine Wirkung. Es gab keine sinnlichen Wahrnehmungen mehr, außer dem Gefühl einer ganz feinen Präsenz, die Svadi Sicherheit versprach. Es war mehr ein Hauch als ein Gefühl, aber es gab ihm Kraft und Stärke. Nicht ein einziger Gedanke ging ihm durch den Kopf. Er begann sich auszudehnen, aber das störte ihn nicht. Es war angenehm, größer und größer zu werden. Dann verschwand auch dieses Gefühl.

Shila saß am weißen Strand. Sie lehnte sich an einen grauen Felsen und blickte über das blaue Meer zum Horizont. Ein Schiff mit weißem Segel kam auf sie zu. Es war langsam, aber zielstrebig. Es würde noch eine Weile dauern, bis es an ihrem Strand ankam. Sie griff in ihre Strandtasche und zog ein Uruk-ka, ein Seidentuch heraus. Sie breitete es vor sich aus und vertiefte sich in die verschlungenen Linien und komplizierten Muster. Die Seide glitzerte in der Sonne und das Uruk-ka erschien wie ein Sternenhimmel. Plötzlich hörte sie ein Knirschen und blickte auf. Das Segelboot war auf den Sand aufgelaufen und ein Mann in einem weißen Anzug stieg aus. Er blieb in einiger Entfernung stehen und sah sie an. „Hallo Svadi“, lächelte sie ihn an, „willst du dich nicht zu mir setzen?“

Der Mann blieb unschlüssig stehen. Das Segelboot löste sich in der gleißenden Sonne allmählich in einen weißen Nebel auf. „Komm, Svadi!“, rief sie. „Wir kennen uns doch, oder hast du mich vergessen?“

„Wir kennen uns?“, wiederholte der Mann.

„Ja, natürlich! Sogar sehr gut!“, rief sie wieder. „Ich bin es, Shila!“

Er schien den Namen zu kennen und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Ich habe meinen Namen vergessen“, sagte er, „deshalb kann ich mich nicht vorstellen, Shila.“

Während er wie angewurzelt stehen blieb, stand Shila auf und ging auf ihn zu. Ihr blaues Kleid flatterte bei jedem Schritt im leichten Wind. „Komm, Svadi, setz dich zu mir. Du hast so viel für uns getan. Jetzt möchte ich etwas für dich tun“, sie nahm seine Hand und führte ihn zu dem Platz auf dem Felsen. „Bitte setz dich“, sagte sie.

„Eine Uruk-ka“, wunderte sich Svadi, „wunderschön. Aber was machst du damit hier?“

„Ich habe damit meditiert, bis du gekommen bist“, antwortete sie. „Ich habe hier auf dich gewartet. Erinnerst du dich, Svadi? Du ruhst dich gerade aus. Ich habe dir Tee gegeben und du bist durch die große Leere hierhergekommen. Hierher zu mir.“

Er schien sich zu erinnern: „Ja, es war so still in der Leere.“ Plötzlich hörte er das Rauschen der leichten Brandung. Die Sonne blendete ihn und er sah Shila erstaunt an: „Shila! Wie bist du hierher gekommen? Wo bin ich?“

Weiter kam er nicht, denn sie schnitt ihm das Wort ab: „Svadi, weißt du, wer du bist?“

Er nickte: „Ja, ich bin Svadi. Wissenschaftler an der Akademie von Muladra.“ Etwas schien ihn zu erinnern: „Wir sollten nicht hier sein. Du und ich sollten jetzt auf der Sahiri im Phasenraum sein und daran arbeiten, dem Vakuumzerfall unseres Universums zu entkommen. Shila, wir haben keine Zeit zu verlieren!“

Er wollte aufspringen, aber sie hielt ihn fest: „Svadi, weißt du, wo du bist?“

Es dauerte einen Moment, bis er antwortete: „Nein, wenn ich ehrlich bin. Das ist nicht die Sahiri.“ Er nahm etwas Sand in die Hand und ließ ihn ungläubig durch seine Finger rieseln: „Das ist ein Strand.“ Er blickte zum Horizont: „Und das ist ein Ozean. Shila, wie sind wir hierhergekommen?“

Ein paar Möwen flogen am tiefblauen Himmel und kreischten. „Das ist nicht echt!“, rief er, „ich werde verrückt!“

Wieder wollte er aufspringen, aber Shila hielt ihn fest: „Svadi“, sagte sie, „du wirst nicht verrückt, das ist wirklich. So real wie die Sahiri und Muladra und Manipura, wo wir uns einst trafen. Es ist meine Realität und ich habe dich hierhergebracht, weil ich dir etwas sagen möchte.“ Sie spürte, wie er sich langsam beruhigte: „Wenn du mir erlaubst, werde ich meine Weisheit mit dir teilen.“ Sie sah ihn an.

„Ja, Shila, ich vertraue dir. Ich liebe dich und bin gespannt, was du mir zu sagen hast“, antwortete er und lehnte sich neben ihr an den Felsen.

Shila begann: „Ich habe deine Verwirrung gesehen, Svadi, und ich spüre, wie  dein Selbstbild untergraben wurde. Deshalb habe ich dich an einen Ort gebracht, der ganz unter meiner Kontrolle steht. Es ist eine Welt, die ich als Hohepriesterin von Manipura erschaffen kann. Das habe ich gelernt und ich möchte es als Beispiel benutzen, um dir zu zeigen, wie wir unsere Realität erschaffen. Du hast dein ganzes Leben damit verbracht, die logischen Informationen deiner Welt zu sammeln und sie in einen Zusammenhang zu bringen, den du Wissenschaft nennst. Aber dabei hast du etwas sehr Wichtiges verloren. Einen Teil von dir, den ich Seele nenne. Während du auf deiner rationalen Suche warst und Erfolg um Erfolg gesammelt hast, hat sich deine Seele auf eine Suche begeben, die erst vor kurzem zu einem Erfolg geführt hat. Jetzt gibt es zwei starke Pole in dir, die sich nicht mit deinem bisherigen Wissen vereinen lassen. Deshalb stelle ich dir etwas vor, das weit über deinen wissenschaftlich-rationalen Verstand hinausgeht. Ich hoffe, du nimmst meine Gedanken an, denn ich möchte dir einen Weg beschreiben, auf dem du zu dir selbst finden kannst. Dieser Weg ist universell und grenzenlos. Er ist im Grunde einfach und leicht zu gehen, aber die meisten projizieren ihre eigenen Begrenzungen darauf und erschweren ihn damit.  Wenn du bereit bist, dich auf diesen Weg einzulassen, wirst du vieles aufgeben müssen, an das du jetzt noch glaubst. Auch wenn es sich um liebgewordene Überzeugungen und Gewohnheiten handelt. Um das Paradoxon zu lösen, indem du dich befindest, kannst du nicht so bleiben, wie du bist. Wenn du dich entwickelst, muss eine Veränderung stattfinden, weil sich deine Überzeugungen neu ordnen. Vor allem das, was du bisher für unumstößliche Wahrheiten gehalten hast.“

Shila machte eine kurze Pause.

„Wir sind in deiner Realität?“, fragte Svadi mit einem erstaunten, aber auch ungläubigen Unterton, „Also in einer Welt, die du erschaffen hast?“

 „Ja, Svadi, so ist es“, antwortete sie, „das, was ich bin, erschafft diese Welt aus dem, was ich weiß, denke und fühle. Es ist ganz einfach, denn ich muss nichts dafür tun.“

„Und wie kann ich darin sein?“, wollte er wissen.

„Erinnerst du dich an den Tee? Es war Sinti Loc Tee, den wir auf Manipura zu Heilzwecken verwendet haben. Unter anderem, um jemanden in unsere eigene Welt zu bringen“, antwortete sie. Als er schwieg und nachzudenken schien, fuhr sie fort: „Ich gebe dir die Informationen, die du brauchst, um dich zu verändern. Sie kommen aus meinem Herzen. Lass sie in dein Herz und alles andere wird sich von selbst ergeben. Auch wenn es allem zu widersprechen scheint, was du je gelernt hast. Ich bin mir sicher, dass du dich damit in Windeseile weiterentwickeln wirst.  Vielleicht bist du überrascht, wenn ich dir sage, dass noch nie etwas zufällig passierte. Und ich bin froh, dass ich es bin, die dir diese Information geben kann. Denn es geht um dein Selbstverständnis. Jede Religion, jede Philosophie, jede Wissenschaft hat ihre eigenen Regeln, die diese Selbstdefinition bestimmen. Ich möchte dir jetzt eine vorstellen, die ich verstanden habe, auch wenn sie mir in vielen Details noch unklar ist.“

Sie sah Svadi an.

Der saß mit geschlossenen Augen an den Felsen gelehnt und hörte ihr zu. „Weißt du, wir sind Geistwesen, die außerhalb jeder Dimensionalität stehen. Wir sind die Quelle von allem. Jeder einzelne von uns ist ein Teil des ewigen, ungewordenen Geistes. Zusammen sind wir alles, was ist. Geist und Liebe sind ein Kontinuum, aus dem wir Bewusstsein erschaffen haben, indem wir uns als Individuen manifestieren. Aber wir sind alle miteinander verbunden. Viele Aspekte des Bewusstseins sind uns als Individuen nicht zugänglich, weil wir in der Materie zu langsam schwingen. Dennoch haben wir Anteil an der höchsten Schwingung. Zwischen diesem anderen und dem, was wir als "Ich" bezeichnen, erstreckt sich ein Schwingungsspektrum, das immer langsamer schwingt, je näher es uns in seiner jetzigen Form kommt. Am langsamsten ist es in der Inkarnation, wo es sich der physischen Materie bedient, um den physischen Körper in diesem Universum zu bilden.“

 „Du meinst, ich bin jetzt kein physischer Körper, obwohl ich mich und dich berühren und fühlen kann?“, unterbrach Svadi.

 „So ist es“, antwortete sie lächelnd, „deine Wahrnehmung ist so perfekt, dass du auch den geistigen Körper oder das Hologramm, dass du jetzt bist, als real und materiell erlebst. Das ist eine sehr grobe Vereinfachung, aber im Prinzip stimmt sie.“ Sie fuhr fort: „Die ausstrahlende Liebe verbindet unser höchstes Bewusstsein mit dem, was wir hier repräsentieren. Diese Verbindung ist ein Kontinuum.

Etwas nicht unterbrochenes, ein EINS mit allem. Aber unsere Wahrnehmung erzeugt daraus so viele Dinge, wie die Sonnenstrahlen auf den Wellen funkelnde Reflexionen erzeugen. All diese Reflexionen haben mit uns selbst zu tun, denn sie sind die Schwingungen, aus denen wir bestehen. Wir können sie zurückverfolgen bis in den chaotisch anmutenden Tanz der Elementarteilchen. Im absoluten Nichts enden nicht die Schwingungen, sondern nur unsere Fähigkeit materielle Dinge wahrzunehmen. Hier verlassen die Frequenzen das Spektrum der manifestierten physischen Existenz und damit auch die Welt unserer Inkarnation.

Aber unsere Existenz geht in anderen Universen des Geistes weiter. Wir sind nie von diesem Jenseits getrennt, denn es ist der Raum, der uns umgibt. Wir, als elementare Lebewesen, durchdringen und überschreiten alle Dimensionen.“

Svadi unterbrach sie: „Wenn wir interdimensionale Wesen sind, warum spielen wir dann dieses Spiel? Es ist doch ein Spiel, oder? Warum tun wir das, wenn wir unendlich sind, allwissend und so mächtig, dass wir Universen erschaffen können, in denen wir dann leben?“ Svadi klang aufgebracht, aber hier in dieser Welt beruhigte sich alles sehr schnell. Auch er.

„Die einen tun es, um sich von Verunreinigungen zu befreien, die in höheren Frequenzen schädlich wären. Die anderen, um sich zu perfektionieren, und wieder andere aus Spaß oder um Informationen zu erhalten.

All dies geschieht durch dieses Spiel, das schon so lange gespielt wird, wie es interdimensionale Wesen gibt, die glauben, von Verunreinigungen betroffen zu sein oder sich perfektionieren zu müssen. Glaub mir, es ist ein schönes Spiel, sehr intelligent und sehr, sehr lehrreich. Es fügt wieder zusammen, was durch unsere Willkür getrennt wurde, erlöst unsere Seelen und heilt das Kontinuum des Geistes“, Shila machte eine Pause und lauschte der Brandung, die nun stärker geworden war. Auch der Himmel verfärbte sich in ein tieferes Graublau und am Horizont zogen dunkle Wolken auf.

 „Svadi, hast du jemals daran gedacht, dass es mehr als ein Universum geben könnte? Dass du in mehr als einem Universum leben könntest? Im Prinzip könntest du in unendlich vielen Versionen in unendlich vielen Universen leben, die sich alle voneinander unterscheiden. Jedes wäre mehr oder weniger verschieden von jedem anderen. Aber alle wären mit dir verbunden. Diese Mitte allen Seins in deinem Bewusstsein zu finden, ist der Schlüssel. In dir wie in mir. Die Welt, in der wir leben, entsteht dadurch, dass wir aus allen Möglichkeiten, die für uns wahrscheinlichsten herausfiltern. Diese Filter sind uns meist nicht bewusst und werden von vielen Faktoren bestimmt, die dazu dienen, uns eine einigermaßen stabile Welt zu präsentieren. Eine Welt, in der es Gesetze von Ursache und Wirkung, Gravitation, Resonanz, Energie und Materie gibt. Vor allem aber bestehen diese Filter aus unseren Ängsten und schlechten Erfahrungen. Deshalb versuchen wir ständig, in dieser gefährlichen Welt zu überleben. Aber es ist unsere eigene Negativität, unser Glaube an das Schlechte und Dunkle, die die Welt gefährlich macht. Wenn wir diesen Glauben ablegen, verändert sich auch unsere Welt, weil wir eine neue Wahrnehmung bekommen. Wir verändern dann die Auswahl der Möglichkeiten, aus denen wir unsere Welt erschaffen.“ Shila dachte einen Moment nach.

„Ich beginne zu verstehen“, reagierte Svadi auf die Stille, „wir surfen auf den Wellen der Zeit und suchen uns die Erfahrungen aus, die uns am interessantesten oder aufregendsten erscheinen. Da sich alles in uns abspielt, sind wir nur uns selbst Rechenschaft schuldig. All dies geschieht im Bewusstsein jedes Lebewesens und spiegelt sich in der manifestierten Welt wider“.

„So ist es“, bestätigte Shila und blickte in die Ferne. Die Wolken hatten sich bedrohlich schwarz verfärbt und die Wellen weit draußen zeigten weiße Gischtkronen. „Wir müssen los“, sagte sie, „wir müssen zurück. Ich bin erschöpft, ich kann dich nicht länger hierbehalten.“

Sie studierte das Gesicht ihres Freundes, in dem sich gerade die tiefen Furchen intensiven Nachdenkens glätteten und ein helles Leuchten in seine Augen trat.

„Das ist es! Das ist es! Shila, meine Liebste, du hast mir die Lösung gebracht!“, rief er plötzlich aus, „so wird alles verständlich.“

Auf einmal strömten philosophische, spirituelle und wissenschaftliche Gedanken in ihm zusammen. Informationen über Bewusstsein, Realität und Existenz blitzten auf und verbanden sich zu neuen Überzeugungen. Dinge, die er zuvor als zu spekulativ und unwahrscheinlich abgetan hatte, bildeten nun Brücken in seinem Denken und füllten die weißen Flecken seines Wissens. Er erkannte, dass zwei oder mehr scheinbar widersprüchliche Wahrheiten nebeneinander bestehen können, ohne die andere zu negieren. Das half ihm, all die Paradoxe zu akzeptieren, die es in seinem Bewusstsein noch gab, ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren. Es war so fantastisch, so gut, so schön.

Shila schüttelte Svadi, der kaum noch atmend und schweißgebadet auf dem Bett lag. „Svadi! Svadi, wach auf!“, rief sie und schlug mit aller Kraft auf seine Brust. Mit einem tiefen Atemzug wachte er auf, öffnete die Augen und sah sich verwirrt um. „Wo bin ich?“, seine Stimme war leise und unsicher. „Du bist bei mir. Bei Shila!“ Ein Stein fiel ihr vom Herzen und sie streichelte seine Wange: „Jetzt wird hoffentlich alles gut“, flüsterte sie und wartete, bis er wieder zu sich kam.

Doch er schlief erschöpft ein.

 

 

Eine Adaption eines Textes aus meinem Buch "Phasenraum" aus der Serie Regenbogenmeister